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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 24.11.2010


Zum 25. Todestag von Elsa Morante am 25. November 2010
Christiane Frettlöh

In ihrer großen Zeit war die italienische Schriftstellerin nicht nur eine höchst beachtete Erscheinung der römischen Literaturszene, sondern auch besessene Kunst-Arbeiterin, Herzstück einer...




... homosexuellen Boheme und Katzenliebhaberin. Am 18. August 1912 wurde Elsa Morante in Rom geboren. Ihr mehrfach preisgekrönter Roman La Storia gehört zu den bedeutendsten Werken der italienischen Nachkriegsliteratur.

Die eigenwillige italienische Autorin Elsa Morante war eine Ausnahmepersönlichkeit. Als erste Frau wurde sie 1957 mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnet. Schillernde Schöne und faszinierende Erscheinung der römischen Literaturszene, zugleich diszipliniert, ja besessen in der Zurückgezogenheit Schreibende, galt sie als eine ´narratrice nata´, eine geborene Erzählerin, die sich in ihrer Hinwendung zum realismo magico von dem damals politisch korrekten realistisch-sozialkritischen Neorealismus abgrenzte und damit heftige Dispute in der literarischen Kritik auslöste. Erst in den 90er Jahren wurde die literaturhistorische Bedeutung der Morante gewürdigt und die Bewertung ihres Hauptwerks La Storia revidiert.

Schon früh begann sie, zunächst als Übersetzerin und Journalistin, zu schreiben. Im Zentrum ihres Oeuvres, das neben Romanen auch Erzählungen, Kinderbücher, Lyrik und Essays umfasst, steht La Storia, eines der bedeutendsten Werke der italienischen Nachkriegsliteratur, das das Schicksal von Menschen im Räderwerk der Geschichte und Kriegsgräuel in den Jahren 1941 bis 1947 in Rom erzählt und mit 600.000 verkauften Exemplaren in der ersten Auflage zum internationalen Publikumserfolg wurde.

Als faszinierende kindlich-katzenhafte Person voller verrückter Fantasien wurde Morante in der Bohème Roms um ihrer selbst willen verehrt, nicht etwa als Ehefrau von Alberto Moravia, der sie nach zwanzig Jahren verließ. Ihr war – nach einem Suizidversuch – ein elendes Lebensende in Pflegebedürftigkeit beschieden. Am 25. November 1985 starb die unkonventionelle und in ihrer Generation einzigartige Schriftstellerin im Alter von 73 Jahren.

Die Figuren ihrer vier Romane - Lüge und Zauberei (1948), Arturos Insel (1957), La Storia (1974) und Aracoeli oder die Reise (1984) - gehören zumeist einer mythisch überhöhten Welt weiblicher Kreatürlichkeit und dem Paradies der unschuldigen Kindheit als poetisch erzähltem Ort an. Schon in ihren ersten Erzählungen, unter dem Titel Das heimliche Spiel (1941) veröffentlicht, entwarf die damals Zwanzigjährige eine Welt, in der die Trennlinien zwischen realen Begebenheiten und Fantasien fließend sind und die ProtagonistInnen eher in Traumbildern als in der äußeren Wirklichkeit beheimatet sind.

La Storia, eine persönliche Familiengeschichte im politischen Kontext

Die Spannung, die durch die diametral einander gegenüber stehenden Erzählstränge von privater Geschichte und unschuldig-kindlichem Erleben auf der einen und der kollektiv erfahrenen Gewalt im Faschismus auf der anderen Seite entsteht, findet im Titel und in der Struktur ihre Entsprechung. La Storia ist doppeldeutig und meint historisches Ereignis, aber auch Geschichte im Sinne eines fiktionalen Textes. Der Aufbau der einzelnen Kapitel, die jeweils ein Jahr umfassen und denen die Chronik der historischen und politischen Ereignisse dieses Zeitraums vorangestellt ist, wurde in der frühen Rezeption kritisiert. Denn diese Übersichten, die die Objektivierung des Erzählten suggerieren, seien letztlich Fremdkörper. Der Autor und Kritiker R.W. Leonhard spricht in seinem Artikel in der Zeit von diesem Weltkriegsroman als von einem "Traum-Epos", das den Anspruch auf historische Wahrheit nicht einlöse, zumal es von der Sprache der Lyrik bestimmt sei. Damit hat er die Intention der Autorin, die diesen Kontrast bewusst herstellt, verkannt.

Wie andere RezensentInnen monierte auch Leonhardt, der auktoriale Erzähler, der sich oft selbst ins Spiel bringt, verliere sich mitunter in Einzelheiten, Abschweifungen, Anekdoten und Träumen. Gerade darin liegt jedoch die Raffinesse der Perspektive, deren Grundposition zudem oft durchbrochen wird von dem personalen Erzählerstandpunkt der Hauptfiguren. Morante lehnt sich zwar an die epische Tradition des historischen Romans im 19. Jahrhundert an, gestaltet das Genre jedoch neu. Die persönliche Familiengeschichte ist eingefügt in einen klaren zeitgeschichtlichen Kontext.

Die Familie wird zum Mikrokosmos in einer engen Welt der kleinen Leute, in der Geschichte fatalistisch hingenommen wird und ihnen, den Opfern, widerfährt und sie traumatisiert. Objektivierend zu berichten ist nicht das Anliegen der Autorin. Sie zeigt das notwendige Scheitern der ProtagonistInnen und ihrer Überlebensanstrengungen inmitten von Bombenangriffen, Evakuierungen und Judendeportationen.

Der Roman beginnt an einem Januartag des Jahres 1941 in Rom. Die verwitwete Lehrerin Ida Ramundo wird das Opfer einer Vergewaltigung durch einen jungen deutschen Soldaten, der am Tag darauf bei dem Transport zu seiner Truppe umkommt. Die Halbjüdin Ida wird so Mutter eines zweiten Sohnes, Guiseppe, der wie Ida an Epilepsie leidet. Seine Lebenszeit ist die erzählte Zeit des Romans.

Guiseppe versteht die Sprache der Tiere und ist in seiner Unschuld das Gegenbild seines ehelichen älteren Bruders Nino, einem waghalsigen zunächst von den Faschisten, später von den Partisanen begeisterten Jugendlichen. In der fortwährenden Angst vor der Entdeckung ihrer Herkunft lebend, verstummt Ida mehr und mehr. Einzig Guiseppe und die im Haushalt lebenden Tiere bieten Trost in der von Gewalt und innerer Verheerung dem Untergang entgegen trudelnden Welt, bis bei einem Bombenangriff ihre Wohnung zerstört und die Hündin, die Guiseppe mütterlich beschützte, verschüttet wird.

Überlebensstrategien der kleinen Leute und düsteres Ende

Die Stationen der Ausgebombten, ein Massenquartier und am Ende des Krieges eine Wohnung im halbproletarischen Kleinbürgerviertel Testaccio, lassen die LeserInnen ihr weiteres Schicksal vorausahnen. Zu ohnmächtigen Randfiguren einer unheilvollen Geschichte ihres Heimatlandes erniedrigt, (er)finden die ProtagonistInnen dennoch eine Gegenwelt zu dem Leidensszenario.

Es ist die Welt der Kinder und der Tiere, die wie eine Familie miteinander leben: einer Hündin, einer Katze, eines Maultiers und zweier Kanarienvögel, die singen: "Es ist alles nur ein Scherz, ein Scherz, alles ist ein Scherz." Als mitleidende Kreaturen werden sie personifiziert. Ihre Sprachen und eine an das kindliche Erleben Guiseppes angenäherte Sprechweise bestimmen den Ton dieses Romans, der auch von Träumen erzählt und Natur beschreibt – dies häufig in Versen. Eine italienische Mischung.

Die Todesartenin der Familie Ramundo sind drastisch: Nino, mittlerweile Schmuggler, kommt auf der Flucht vor der Polizei ums Leben. Sein Bruder erliegt 1947 mit sechs Jahren einem epileptischen Anfall. Ida, die darüber wahnsinnig geworden ist, verbringt den Rest ihrer kurz bemessenen Lebenszeit in einer psychiatrischen Anstalt.

Das postfaschistische Italien wird in einem lapidaren Resümee als das Land dargestellt, das es seit jeher war: "Den alten Großgrundbesitzern fiel wieder der größte Anteil an Grund und Boden zu, den Industriellen die Maschinenanlagen und Fabriken, den Offizieren die hohen Stellen und den Bischöfen die Diözesen. Und die Reichen ernährten sich auf Kosten der Armen, die ihrerseits danach trachteten, an die Stelle der Reichen zu treten, es war alles wie immer."

Elsa Morante, selbst in dem proletarischen römischen Stadtteil Testaccio aufgewachsen und von ihrer Mutter im Lesen und Schreiben unterrichtet, hat mit diesem düster endenden Jahrhundertroman das Genre dem Gegenstand des Erzählens anverwandelt und entgegen der vorherrschenden zeitgenössischen Ästhetik des Neorealismus neu definiert.


Elsa Morante
La Storia

Originaltitel: La Storia
Aus dem Italienischen von Hannelise Hinderberger
Piper Verlag, München, erscheint im Dezember 2010
Kartoniert, 720 Seiten
ISBN: 9783492263801
12,95 Euro


Elsa Morante
Aracoeli

Aus dem Italienischen von Ragni Maria Schwend
Verlag Klaus Wagenbach
Broschiert, 432 Seiten
ISBN 978-3-8031-2293-3
12,50 Euro


Elsa Morante
Das heimliche Spiel

Erzählungen
Aus dem Italienischen von Susanne Hurni-Maehler
Verlag Klaus Wagenbach, erschienen 2005
Quartbuch, gebunden, 200 Seiten
ISBN 978-3-8031-3194-2
19,50 Euro


Die Gastautorin, Christiane Frettlöh, ist freie Journalistin, begleitet redaktionell u.a. das Theater THIKWA und war lange am Berlin-Kolleg tätig, wo erstmals Frauenkurse eingerichtet wurden.




(Quelle:
Rudolf Walter Leonhardt
Traum-Epos. Elsa Morantes Weltkriegsroman "La Storia" DIE ZEIT, 20.8.1976 Nr.35)


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Beitrag vom 24.11.2010

AVIVA-Redaktion